Kontrolle ist gut – Vertrauen ist Blockchain

Christian Sadrinna
6 min readJun 18, 2021

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Photo by Liane Metzler on Unsplash

Lesen & verstehen, wie …

  • Vertrauen in unserer Gesellschaft entsteht
  • Vertrauen im Zeitalter des Internets gefährdet ist
  • Vertrauen im 21. Jahrhundert ent- und bestehen kann

Ausgangslage

Die globalisierte Gesellschaft hat im Laufe der Jahrhunderte viele zentralisierte Strukturen etabliert, die Vertrauen und Nachvollziehbarkeit erzeugen, beispielsweise einheitliche Systeme der Buchführung oder zentrale Regulierung- und Kontrollinstitutionen (z.B. Wirtschaftsprüfer).

Kernaussage (dieses Textes)

Vertrauen ist das wichtigste Gut, damit Menschen außerhalb der persönlichen Beziehung, im Unternehmen oder Privat mit anderen in geschäftliche Aktivität treten können. Vertrauen wird heute dabei oftmals auf vielfältige Weise durch gemeinsame — sehr bewährte, aber zentrale — Stellen bereitgestellt. Das digitale und globale Zeitalter bringt diese Systeme an ihre Grenzen. Jahrhunderte der Zentralisierung haben missbräuchliche Strukturen in der Gesellschaft geschaffen, die die Innovationskräfte hemmen und ein gewaltiges Ungleichgewicht erzeugt haben. Ein Ausweg zur Überwindung ist, die gesellschaftliche Ordnung auf ein neues dezentrales Fundament zu stellen, welches im Kern Vertrauen durch den Einsatz der anerkanntesten und universellsten Sprache der Welt schafft: Mathematik.

Die “Dot-Com-Blase” der 1990er Jahre wird gemeinhin als eine Zeit des verrückten Exzesses betrachtet, die mit der Vernichtung von Hunderten von Milliarden Dollar an Vermögenswerten endete. Was weniger oft diskutiert wird, ist, wie das billige Kapital der Boomjahre half, die Infrastruktur zu finanzieren, auf der die wichtigsten Internet-Innovationen nach dem Platzen der Blase aufgebaut werden sollten. Es bezahlte den Ausbau von Glasfaserkabeln, die Forschung und Entwicklung von Mobilfunknetzen und den Aufbau von riesigen Rechenzentren. All dies ermöglichte wiederum die Technologien, die heute das Fundament der mächtigsten Unternehmen — wie Facebook, Google & Co. — bilden: der Beginn des “Informationszeitalters” wie wir es kennen. Das Internet als Basisinfrastruktur hat damit den Zugang von “Informationen” revolutioniert. Derzeit baut sich ein ähnliches “Dot-Com” Szenario mit der jungen Kryptoindustrie — allen voran “Bitcoin” — auf. Es ist noch nicht vorherzusagen, wie die neuen “Googles” dieser Industrie aussehen werden, die auf der Blockchain-Technologie aufbauen. Im Unterschied zum Internet und der Informationsverarbeitung, geht es hierbei technologisch gesehen aber um ein anderes Gut, welches vollkommen revolutioniert werden könnte: Vertrauen.

Das Internet hat die Informationsverarbeitung revolutioniert — die Blockchain wird die Vertrauensverarbeitung revolutionieren.

Der moderne Kapitalismus hat eine lange Geschichte und Tradition — und doch ist es vielleicht eine Methodik, die Wachstum und Handel erst ermöglicht und eine Basis für Vertrauen geliefert hat, die es vorher nicht gab: doppelte Buchführung. Im 14. Jahrhundert begannen italienische Kaufleute und Bankiers, die Methode anzuwenden und stiegen damit in eine neue Rolle des “Vermittlers” im internationalen Waren- und Zahlungsaustausch auf. Seither gelten “saubere Bücher” als Zeichen von Ehrlichkeit und Ehrbarkeit, was Vertrauen schaffte und den Geldumlauf beschleunigte. Das neue System finanzierte die Renaissance und ebnete den Weg für die kapitalistische Explosion, die die Welt verändern sollte. Doch das System war nicht unempfindlich gegen Betrug. Banker und andere Finanzakteure verletzten oft ihre moralische Pflicht, ehrliche Bücher zu führen, und sie tun es immer noch immer (#Enron oder #Wirecard). Zur Aufrechterhaltung von Vertrauen haben sich wiederum neue Branchen gebildet, die durch ihre Prozesse und ihren Namen vertrauen suggerieren sollen. Im Kontext von Unternehmen sind das beispielsweise Wirtschaftsprüfungsgesellschaften. Aber auch im gesellschaftlichen Umfeld gibt es viele Institutionen die Vertrauen aussprechen und das wirtschaftliche Gebaren in der jetztigen Form erst ermöglichen:

  • Banken schätzen die Kreditwürdigkeit ihren Kunden und zeigen damit die Vertrauenswürdigkeit gegenüber Dritten.
  • Zentralbanken sind legitimiert Geld in Umlauf zu bringen und Gesellschaften vertrauen auf diese Systeme zum Tausch und Handel.
  • Staaten stellen Personalausweise aus und bescheinigen damit gegenüber anderen Staaten, dass die Person das Vertrauen des ausstellenden Staates genießt und die Person ist, für die sie sich ausgibt.
  • Siegel (#FairTrade) werden auf Produkten gezeigt, um das Vertrauen in den Verkäufer und dessen Qualitäts- oder Lieferstandards zu beweisen.

Das Vertrauensthema ist damit meist ein “zentralisiertes” Thema — es gibt eben nur einen Staat der mir einen Personausweis ausstellt, nur eine Zentralbank die die Hohheit über den EURO hat oder nur eine Organisation die #FairTrade Siegel vergibt. Diese Zentralisierung ist für ihre entsprechende Aufgabe hoch effizient und gut organisiert — allerdings auch anfällig für Manipulation. So haben wir es als Gesellschaft zugelassen, dass zentralisierte Vermögensverwalter wie Banken, Börsen und andere Finanzvermittler unentbehrlich geworden sind und sie damit von reinen Vermittlern zu Schlüsselfunktionen gemacht — hohe Gebühren, eingeschränkter Zugang oder Innovationslosigkeit sind Konsequenzen ihrer Dominanz.

Die beschriebene Methodik der Buchführung aus dem 14. Jahrhundert mag wie eine langweilige Errungenschaft erscheinen, doch ist sie ein gutes Vorbild für die technische Revolution, auf der die Blockchains von heute beruhen. Seit hunderten von Jahren bildet die doppelte Kontenführungssysteme das wirtschaftliche Fundament. Jeder Austausch von Werten, jeder Besitz und Eigentum, jedes Schuldverhältnis. Alles basiert auf dem Vertrauen in ein gemeinsames System, um diese Transaktionen zu erfassen und verfolgen. Ein System, das der Gesellschaft selbst Definition und Ordnung gibt. Woher sollten wir sonst wissen wer der reichste Mensch der Welt ist? Dieses System der Ordnung ist im Informationszeitalter allerdings an seine Grenzen gestoßen. Wie kann man beispielsweise Eigentum an digitalen Sachen feststellen? Einer Musikdatei? Einem Bild?

Eine Blockchain — und Bitcoin als ein prominentes Beispiel — ist eine elektronische Datei — eine Liste von Transaktionen. Diese Transaktionen können im Prinzip fast alles darstellen: Geldtransaktionen, Austausch von anderen Vermögenswerten oder Rechte an digitalen Werken (z.B. Musik). Sie könnten intelligente Verträge (Smart Contracts) enthalten, die codebasierte Anweisungen sind, etwas zu tun (z.B. eine Aktie zu kaufen), wenn etwas anderes wahr ist (der Preis der Aktie ist unter €15 gefallen).
Was eine Blockchain zu einer besonderen Art von digitaler Datei macht, ist die Tatsache, dass sie nicht von einer einzigen zentralisierten Institution wie einer Bank oder einer Regierungsbehörde verwaltet wird, sondern in mehreren Kopien auf mehreren unabhängigen Computern innerhalb eines dezentralen Verbundes gespeichert wird. Keine einzelne Instanz kontrolliert die Datei. Jeder der Computer im Netzwerk kann eine Änderung vornehmen, aber nur, indem er den Regeln folgt, die von einem “Konsensprotokoll” diktiert werden, einem mathematischen Algorithmus, der eine Mehrheit der anderen Computer im Netzwerk benötigt, um der Änderung zuzustimmen. Sobald ein durch diesen Algorithmus erzeugter Konsens erreicht wurde, aktualisieren alle Computer im Netzwerk ihre Kopien des Hauptbuches gleichzeitig. Wenn einer von ihnen versucht, ohne diesen Konsens einen Eintrag hinzuzufügen oder einen Eintrag rückwirkend zu ändern, lehnt der Rest des Netzwerks den Eintrag automatisch als ungültig ab. So entsteht eine unveränderliche, gemeinsam genutzte Aufzeichnung der “Wahrheit”, die nicht manipuliert werden kann.

Allen gemeinsam ist, dass mathematische Regeln und unangreifbare Mathematik (#Kryptographie) und nicht das Vertrauen in fehlbare Menschen oder Institutionen die Integrität der Datei garantieren.

Die Vorteile dieses dezentralen Modells werden deutlich, wenn man es gegen die Vertrauenskosten des derzeitigen zentralistischen Wirtschaftssystems abwägt. Beispiel: Im Jahr 2007 meldete Lehman Brothers Rekordgewinne die alle von ihrem Wirtschaftsprüfer Ernst & Young bestätigt wurden. Neun Monate später führte ein Sturzflug eben dieser Vermögenswerte zum Bankrott des 158 Jahre alten Unternehmens und löste die größte Finanzkrise seit 80 Jahren aus. Offensichtlich waren die in den Büchern der vorangegangenen Jahre angeführten Bewertungen weit daneben. Das Versagen im System der doppelten Buchführung und einer kostspieligen prüfenden Gesellschaft war eine eindringliche Erinnerung an den hohen Preis, den wir oft dafür zahlen, dass wir den intern erarbeiteten Zahlen zentraler Stellen vertrauen. Die Krise war ein extremes Beispiel für die Kosten des Vertrauens. Es geht aber auch harmloser: Denken wir an die Kosten die all die Buchhalter und deren IT-Systeme kosten. Ihre Arbeit, der Abgleich der Bücher ihres Unternehmens mit denen ihrer Geschäftspartner, besteht darin, dass keine Partei den Aufzeichnungen der anderen vertraut. Es ist ein zeitaufwändiger, teurer, aber notwendiger Prozess. Diese Kosten werden von den Wirtschaftswissenschaftlern nur selten anerkannt oder analysiert, weil Praktiken wie der Kontenabgleich als integraler, unvermeidbarer Bestandteil des Geschäftslebens angesehen werden.

Das Versprechen der Blockchain-Technologie ist hingegen diese Kosten des Vertrauens durch einen radikalen, dezentralisierten Ansatz drastisch zu reduzieren — und damit eine neue Art der Strukturierung gesellschaftlicher Organisationen zu schaffen.

Fazit

Vertrauen ist ein wichtiger Bestandteil unserer Gesellschaft — ein wichtiger Teil, ein Fundament. Im Falle einer tiefgreifenden und radikalen Umorganisation des untersten Mikadosteines mag es noch viele offene Fragen geben, die die Gesellschaft beantwortet haben will. Es mag klar sein — die bisherige Wirtschaftsordnung mit vielen Institutionen zur Vertrauensbildung (Banken, Versicherungen, …) und eine neue dezentrale Ordnung sind grundverschieden — und können daher nicht parallel existieren. Massenarbeitslosigkeit nach heutigem Verständnis wäre demnach eine entsprechende Folge. Im Umkehrschluss darf das allerdings nicht bedeuten, dass wir den Status Quo behalten und sogar verteidigen sollten — ganz im Gegenteil. Die Blockchain — als Technologie — bietet einen dezentralen Ansatz der Vertrauen durch Mathematik und Machtverteilung ermöglicht und damit viele Probleme unserer Zeit — die sich durch Zentralität und Machtmissbrauch gebildet haben — zu überwinden. Ein neues, ein besseres, ein nachhaltiges gesellschaftliches System. Das Internet hat die “Informationsverarbeitung” revolutioniert — die Blockchain wird die “Vertrauensverarbeitung” revolutionieren.

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